Kontra Akademisierung

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Prof. Dr. Julian Nida-Rümelin (Philosoph, Ludwig-Maximilians-Universität München, Staatsminister für Kultur und Medien a.D.)

Gleich zu Beginn der Diskussion wird klar, dass Barbara Dorn und Kai Gehring insbesondere den polemisierenden Ausdruck des „Wahns“ im Rahmen der Debatte um Akademisierung kritisieren. Der Begriff erinnere, so Barbara Dorn an den Rinderwahn und würde das Bild von Studierenden heraufbeschwören, die wie Herden ängstlicher Rinder dem Abgrund entgegen geführt werden.

Obwohl Julian Nida-Rümelin einräumt, dass der dramatische Begriff „Akademisierungswahn“ eher der Zuspitzung eines Journalisten zu verdanken sei, als dass er ihn selber bewusst in die Welt gesetzt haben wolle, sei er immerhin der Meinung, dass – was die Bildung in Deutschland betrifft – eine gewisse Skepsis nicht fehl am Platze sei. Dies hänge damit zusammen, dass es in Deutschland kein aktuelles Gesamtkonzept für Bildung gebe. Die 200 Jahre alte Bildungsphilosophie Humboldts bilde, so Nida-Rümelin, die Basis der gegenwärtigen Führungsrolle Deutschlands. Doch jetzt lasse sich Deutschland von externen Beobachter/innen der OECD die Leviten lesen, unter anderem was die angeblich zu niedrige Zahl an Akademiker/innen anbelangt. Dabei trügen die OECD-Empfehlungen der spezifischen Situation der Bundesrepublik mit ihrer dualen Berufsausbildung keine Rechnung. Deutschland an Ländern zu messen, die laut OECD besser abschneiden, sei wie Äpfel mit Birnen zu vergleichen, so Nida-Rümelin.

Außerdem wolle man Deutschland als Industriestandort nicht aufgeben. Wenn nun der Akademikeranteil erhöht werden solle, wie könne dann in Zukunft die besondere Stärke Deutschlands aufrecht erhalten werden? Julian Nida-Rümelin meint, in der Industriegesellschaft mache man sich jetzt schon Sorgen wegen der anhaltenden „Dequalifizierungsoffensive“, in der sich Deutschland befinde. Man solle sich fragen welche BA-Studiengänge für die Industriegesellschaft wirklich nötig seien und welche Bildungsangebote der Nachfrage des tertiären Sektors künftig am besten entsprächen.

Ausgehend von seiner pragmatischen Philosophie fordert Julian Nida-Rümelin einen neuen Zusammenhang zwischen Bildung und Philosophie. Dabei solle behoben werden, was Nida-Rümelin im Grunde an der heutigen Bildungsexpansion kritisiert: die Selektionsfunktion der Bildung. Er fordert die Integration einer humanen Bildung, die inklusiv ist. Dies heißt, dass nach wie vor alle Menschen Bildung genießen sollten, aber auch dass die berufliche Ausbildung nicht a priori als minderwertig betrachtet werden dürfe.

Dezidiert wehrt sich Julian Nida-Rümelin daher auch gegen Elitarismus-Vorwürfe – unter anderem aus dem Publikum. Es sei nicht sein Wunschbild, dass – nach Platon – die Menschen „aus Gold“ unter sich blieben; er wolle den Zugang zur Hochschule nicht verengen, sondern er plädiere vielmehr dafür, dass die Berufsbildung emanzipiert. Wieso werden jene, die eine Berufsausbildung statt eines Hochschulstudiums absolvieren, als minderqualifiziert angesehen – und zwar auch von der OECD –, klagt Nida-Rümelin. Kai Gehring führt an, dass Berufsausbildung und Hochschulen für Bildungspolitiker gleichwertig seien, dies aber leider soziokulturell noch nicht der Fall sei. Die Diskussionspartner sind sich darüber einig, dass eine Gleichwertigkeit beruflicher und akademischer Bildung nicht nur durch einen staatlichen Finanzierungsausgleich ermöglicht, sondern zugleich und infolgedessen auch kulturell verankert werden solle, damit Klischees wie „Ohne Abi bist' nix“ der Vergangenheit angehören.

Julian Nida-Rümelins Vision von einer neuen Bildungsphilosophie, die als Gesamtkonzept für die Bundesrepublik dienen könnte, ist keineswegs ein präzise definiertes Manifest, sondern ein pragmatischer Ansatz. Sie ist nicht als Entwurf einer „Bildungsplanwirtschaft“ zu verstehen, sondern vielmehr als Programm, in dem Wahlfreiheit und nicht zuletzt auch Chancengerechtigkeit ein wichtiger Platz eingeräumt werden. Die Diskussion über den so genannten „Akademisierungswahn“ lenke – darüber sind sich die Diskussionspartner einig – von der eigentlichen Achillesferse des deutschen Bildungssystems ab: der Selektivität des Systems und der Verhärtung des Zusammenhangs zwischen Herkunft und Bildung.